Auf letzten Metern abgespecktEU beschließt doch noch Gesetz zu Plattformarbeit

Die EU-Mitgliedstaaten haben gestern eine abgeschwächte Richtlinie zu Plattformarbeit durchgewunken. Eine erste, ambitioniertere Fassung hatten sie im Dezember blockiert. Die Verhandlungen finden so ein getrübtes Ende, das Gesetz wird trotzdem viele neue Arbeiter:innenrechte bringen.

Ein Mann in Hemd und Weste schneidet ein Stück von einem teuer aussehenden Schinken ab.
Die Mitgliedstaaten konnten sich noch einige Rechte abschneiden (Symbolbild). – Public Domain Pexels / Fidel Hajj

Gestern trafen sich die Arbeitsminister:innen der EU in Brüssel. Auf der Agenda: Die geplante Richtlinie zur Plattformarbeit, mit der Arbeiter:innen mehr Rechte bekommen sollen. Das Treffen war ein letzter Versuch, das Vorhaben doch noch vor der anstehenden Europawahl über die Ziellinie zu bringen. Denn die Mitgliedstaaten hatten schon vorher zweimal ihre Vertreter:innen in Brüssel vorgeschickt, um das geplante Gesetz zu beschließen, und zweimal hatten einige Staaten dazwischengefunkt. Das Vorhaben galt schon als halb beerdigt.

Deshalb mussten gestern die Chefs ran. Bei 23 der 27 Anwesenden der Sitzung war dabei klar, dass sie das Vorhaben unterstützen würden, wie sie es auch schon beim letzten gescheiterten Anlauf getan hatten. Wegen der Abstimmverhältnisse im Rat, die neben der Zahl der Staaten auch den Anteil der Bevölkerung beachten, konnten aber vier Staaten das Vorhaben blockieren: Frankreich stimmte dagegen, Deutschland, Estland und Griechenland enthielten sich. Ein Ja von einem dieser Staaten wäre genug, um die Richtlinie ans Ziel zu bringen.

Überraschende Mehrheit

Schon vor dem Treffen zeichnete sich ab, dass dieses Ja nicht von Deutschland kommen würde. Hubertus Heil (SPD), der deutsche Arbeitsminister, konnte nur eine weitere Enthaltung überbringen. Die FDP blockiert in der sozialdemokratisch geleiteten Koalition weiter eine deutsche Zustimmung, was in Europa in letzter Zeit zunehmend für Unverständnis sorgte. Heil hatte dann auch eine deutliche Botschaft an die FDP dabei: „Wer nicht kompromissfähig ist, kann nicht mitgestalten“, sagte er gestern.

Frankreich hat nach Deutschland in der EU die zweitmeisten Einwohner:innen, weshalb seine Blockade bisher so schwer ins Gewicht fiel. Der neue Kompromiss sei bereits eine Verbesserung, sagte gestern der französische Vertreter im Vorfeld. Wenn die Kommission in einigen Punkten noch ein wenig mehr Klarheit schaffen würde, könnte man vielleicht sogar zustimmen. Frankreich hatte in der vergangenen Woche vorgeschlagen, den Entwurf noch weiter zu verwässern.

Diese Forderung erübrigte sich aber mit der Wortmeldung der griechischen Arbeitsministerin, der Konservativen Domna-Maria Michailidou. Auch sie sehe weiter Probleme mit dem Entwurf, aber: „Da wir im Geist von Kompromiss und europäischer Einheit arbeiten wollen, werden wir die Richtlinie unterstützen.“ Die Reaktion der anderen Arbeitsminister:innen: Spontanes Klatschen. Denn mit dem Seitenwechsel Griechenlands stand die notwendige Mehrheit für die Richtlinie, selbst ohne Deutschland und Frankreich. Estland bestätigte das noch, indem auch sein Vertreter ankündigte, trotz bleibender Zahnschmerzen für die Richtlinie stimmen zu werden.

Weniger Klarheit

Damit werden die zuständigen Ratsvertreter:innen in ihrer nächsten Sitzung die Richtlinie abnicken, sofern sich nicht auf den allerletzten Metern neue Probleme ergeben. Der Beschäftigungsausschuss im Parlament hat mit dem 19. März schon einen Termin für seine Zustimmung, dann muss das Parlamentsplenum noch ein Ja aussprechen und das Gesetz kann in Frieden ein Gesetz werden.

Also Ende gut, alles gut? Nein.

Die Mitgliedstaaten konnten sich mit ihrer Blockade erfolgreich ein entscheidendes Filetstück aus der Richtlinie herausschneiden. Ursprünglich war der Kern des geplanten Gesetzes die sogenannte Annahme eines Angestelltenverhältnisses. Viele Menschen, die für Plattformen wie Uber oder Deliveroo arbeiten, gelten vor dem Gesetz als selbstständig. Theoretisch sind sie damit freier, übernehmen aber auch mehr Risiken. Das Unternehmen zahlt etwa nicht für ihre Krankenversicherung oder ist nicht an den Mindestlohn gebunden.

Praktisch gibt es viele Fälle – Millionen von Fällen, schätzt die Kommission – in denen Plattformunternehmen diese angebliche Selbstständigkeit ausnutzen. Sie geben ihren Arbeiter:innen Anweisungen, als ob sie angestellt wären, folgen aber selbst nur den Regeln für Auftraggeber von Selbstständigen. Wenn Arbeiter:innen dagegen vorgehen wollen und sich von einem Gericht neu einstufen lassen wollen, dauert das oft Jahre und ist sehr aufwendig. Außerdem gibt es in jedem Mitgliedstaat eigene Gesetze, die Situation kann also hinter jeder EU-Grenze völlig anders sein.

Hier wollte die Richtlinie eingreifen: Es sollte klare Kriterien für einen Test geben, um zu ermitteln, ob eine Person auf einer Plattform wirklich selbstständig arbeitet. Damit wären die Regeln einfach und einheitlich.

Das haben die Mitgliedstaaten verhindert. Der heute beschlossene Kompromiss enthält diese EU-weiten Kriterien nicht mehr. Die EU-Länder dürfen sich nun selber eine Liste an Kriterien ausdenken. Sie müssen sich dabei zwar an gemeinsame Prinzipien halten, aber die rechtliche Lage könnte sich von Land zu Land trotzdem weiter drastisch ändern.

Kritik von Lobby und Mitgliedstaaten

Frankreich versuchte gestern, diese zusätzlichen Rechte für Mitgliedstaaten als großen Gewinn zu verkaufen. Normalerweise ist der Rat dafür ein dankbares Publikum, das Behalten von Macht auf nationaler Ebene ist schließlich seine Daseinsberechtigung.

Trotzdem waren einige der Mitgliedstaaten wenig begeistert von ihren neuen Möglichkeiten. Die Kriterien national festzulegen, „wird zu einer Fragmentierung führen und zu einem Mangel an Rechtsicherheit für die Plattformen, die in verschiedenen Mitgliedstaaten tätig sind“, kritisierte die bulgarische Arbeitsministerin Ivanka Shalapatova. Auch der luxemburgische Arbeitsminister Georges Mischo sagte, sein Land hätte europäische Kriterien vorgezogen. Er befürchtete nun, dass Plattformen sich einfach die Mitgliedstaaten mit den für sie günstigsten Kriterien aussuchen könnten.

Selbst der deutsche Digitalverband Bitkom kritisierte die von Frankreich durchgesetzten Änderungen. „Die Folge wird wie so oft ein Flickenteppich nationaler Regelungen sein, der neue Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten schafft“, schrieb der Verband der IT-Wirtschaft im Februar. „Plattformarbeit muss in Europa einheitlich geregelt werden, damit der Binnenmarkt nicht durch nationale Gesetzgebung fragmentiert wird. Dabei braucht es Rechtssicherheit und gleiche Wettbewerbsbedingungen für plattformvermittelte Dienste.“ Eindeutige Kriterien seien dabei von entscheidender Bedeutung.

Jubel aus dem Parlament

Trotz dieser Abzüge wird die Richtlinie bald, nach langer Vorlaufszeit, Gesetz sein. Danach geht es dann an die nationale Umsetzung, EU-Länder haben hierbei Handlungsspielraum. Auch Deutschland wird ein eigenes Gesetz schreiben müssen, was wegen der Blockadehaltung der FDP noch einmal interessant werden könnte. Die hauptsächlichen Schritte auf EU-Ebene sind nun aber gegangen, entsprechend erleichtert fielen gestern die Reaktionen aus.

„Wir haben gewonnen – für Plattformarbeiter:innen und gute Arbeitgeber:innen, gegen das aggressive Lobbying von ausbeuterischen Plattformriesen, bis ans Ende unterstützt vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron und seinen Liberalen“, sagte gestern Elisabetta Gualmini. Die italienische Sozialdemokratin hatte für das EU-Parlament die Verhandlungen zur Richtlinie geführt. „Die Europäer:innen, die in weniger als 100 Tagen wählen werden, werden sich daran erinnern.“

„Besser spät als nie!“, so Dennis Radtke, der Schattenberichterstatter der Konservativen. Die Schattenberichterstatterin der Linken, die Französin Leïla Chaibi, kritisierte vor allem Emmanuel Macron. Der Präsident sei aber erfolglos geblieben: „Mit dieser Richtlinie werden Millionen von Scheinselbstständigen in ganz Europa zu Arbeitnehmern umqualifiziert werden“, erwartet Chaibi.

Auch Nicolas Schmit, der EU-Arbeitskommissar, hieß die gestern zustande gekommene Mehrheit willkommen. Schmit, ein luxemburgischer Sozialdemokrat, hatte die Richtlinie in den letzten drei Jahre vorangetrieben. Die Einigung über das Gesetz sei ein Signal, das über die europäischen Grenzen hinaus Wirkung zeigen könnte, sagte er gestern. „Ich denke, dass Europa da einmal mehr mit gutem Beispiel voranschreitet.“

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5 Ergänzungen

  1. >> Selbst der deutsche Digitalverband Bitkom kritisierte …Plattformarbeit muss in Europa einheitlich geregelt werden, … Eindeutige Kriterien seien dabei von entscheidender Bedeutung.

    Entscheidende Bedeutung für wen? Es ist mir noch nicht aufgefallen, dass Bitkom jemals für die Rechte von Beschäftigten eingetreten wäre.

    1. „Es ist mir noch nicht aufgefallen, dass Bitkom jemals für die Rechte von Beschäftigten eingetreten wäre.“

      Das sehr ich auch so, invalidiert die vorgebrachte Kritik jedoch nicht. Was spricht gegen eine einheitliche Regelung? Gegen eindeutige Kriterien?

    2. BITKOM vertritt die Unternehmen. Die haben Angst davor, dass ihnen Beschäftigung von Scheinselbstständigen nachgewiesen werden kann und sie damit die AG-Anteile an der Sozialversicherung nachzahlen müssen.
      Das ist ja ein Grund dafür, dass Unternehmen zunehmend keine Selbstständigen mehr beschäftigen (oder nur via Halsabschneidern, sprich Vermittlern).

  2. Die Richtlinie zu Plattformarbeit ist genauso ein Murks wie die EU-Urheberrechtsreform.

    Dabei geht es ebensowenig um Arbeitnehmerinnenrechte, wie es bei der Chatkontrolle um „Kinder“ geht.

    Das Narrativ der „Millionen von Scheinselbstständigen“ wird nicht nur von der Bitkom (letztlich ein Arbeitgeberverband) in Frage gestellt.

    Die Mitglieder der BAGSV (Bundesarbeitsgemeinschaft der Selbstständigenverbände) – u.a. der Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD) e.V. – haben sich mit guten Argumenten gegen die Platformrichtlinie gestellt. Ohne deren Positionen zu erwähnen ist eine Berichterstattung hierzu einseitig.

    Das Triggerwort „Arbeitnehmerinnenrechte“ sollte nicht hinreichen, um die Platformrichlinie zu begrüßen.

  3. Unser Paketbote von einem sehr großen deutschen Postunternehmen ist selbstständig, genauer soloselbstständig. Er arbeitet schon seit rund 10 Jahren auf der gleichen Tour. Urlaub ist kaum drin, daher macht er auch so gut wie keinen. Der Auftraggeber gibt den Preis für die Lieferungen und damit einen zentralen Teil seines Umsatzes vor. Der LKW ist nicht seiner, sondern der des Postunternehmens und für den zahlt er. Er hat Entscheidungsfreiheit, ob er seine Tour von vorne nach hinten macht oder umgekehrt. Freie Zeiteinteilung gehört in der Branche eh nicht dazu, der LKW muss vom Hof und andere warten dahinter schon.
    In meiner Zeit als Soloselbstständiger war ich in der IT-Industrie in Aufträgen maximal 9 Monate für einen Kunden tätig bei Stundensätzen, für die unser Paketbote mit knapper Schallgeschwindigkeit rumlaufen müsste. Ich darf dem Kunden Lösungen für sein Problem vorschlagen, diese umsetzen, mir überlegen, wie ich das am besten umsetze, beim Testen unterstützen, Abnahmeprotokolle erstellen und unterschreiben lassen. Damit war ich damals in einer rechtlichen Grauzone unterwegs und möglicherweise ein Scheinselbstständiger. Ich wäre ja abhängig von einem Kunden, bewiesen an der Tatsache, dass der mir einen wöchentlichen Austauschtermin vorgibt. Zu dem ich natürlich befragt wurde, der innerhalb eines Projekts auch wichtig ist, aber wer wird denn bei Details… Da ist natürlich jetzt etwas ganz anders als unser Paketbote, denn der ist nicht sicher nicht scheinselbstständig.

    Nein, lieber Bitkom, es wird keine Rechtsunsicherheit geschaffen. Diesen Zustand gibt es schon. In Deutschland ist Euch dieser Zustand piepschnurzegal. Also lasst die Scheinheiligkeit bleiben.

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